KU - Was ist das, bitte?

Ein Artikel von Iris Seifert aus dem Jahr 2000 für die Zeitschrift "Grundschule konkret"
Fächerübergreifendes Arbeiten in der 5. und 6. Klasse
Eigentlich unterrichte ich ganz normale Kinder, meist 30 an der Zahl. Sie spielen gern Fußball und Computer, tauschen Pokemon-Sticker oder erste Liebesbriefe... 
Aber manchmal stellen sie auch Fragen wie: „Also, wenn Adam und Eva die ersten Menschen waren ... , haben denn die Kinder von denen etwa miteinander Kinder gezeugt?“ oder „Wieso gehören die Teile der Welt, wo sich die ersten richtigen Menschen entwickelten und wo später die ersten Städte und Reiche gegründet wurden, heute zur Dritten Welt und haben eigentlich nichts mehr zu sagen?“ Nach kurzem Staunen über die Komplexität dieser Fragen von Fünftklässlern bemühe ich mich in der Regel um eine  altersgemäße Erklärung und darum, mir meinen Lehrerstolz über so intelligente Fragen meiner Schüler nicht zu sehr anmerken zu lassen. 

Ich denke, jeder Lehrer kennt diese kleinen Momente der Freude und Zufriedenheit, wenn es uns gelungen ist, unsere Schüler mitzunehmen auf eine Reise in das für sie Neue und Unbekannte, wenn sie mit Interesse, Freude, Spaß und Staunen mitarbeiten und uns Lehrern zu der Erkenntnis verhelfen, einen schönen und wichtigen Beruf ergriffen zu haben. Letztere geht einem Berliner Lehrer im täglichen Ringen mit (über)vollen Klassen, knappen Finanzen und widersprüchlichen bildungspolitischen Vorgaben ja zuweilen verloren.

Nichtsdestotrotz haben viele Schulkollegien das Warten auf längst überfällige staatliche Reformen aufgegeben und erproben fortschrittliche pädagogische Konzepte in eigener Verantwortung. An meiner Schule, der "Grüner Campus Malchow - Schule im Grünen", arbeitet seit nunmehr zehn Jahren ein junges Kollegium von Lehrern und Erziehern erfolgreich an der Verwirklichung eines selbstentwickelten alternativen Konzeptes, welches den Gedanken der Umwelterziehung aufgreift und diesen mit neuen methodisch-didaktischen Ansätzen verknüpft. Einmalig in Deutschland haben alle Schüler eine Stunde mehr Unterricht in der Woche - das Fach Umweltlehre (im Rahmen eines Schulversuches). Aber Umweltlehre ist nur eine der Säulen unseres Schulkonzeptes. Daneben nutzen wir die Möglichkeiten zur Öffnung des Unterrichts, bieten Freiarbeit und Wochenplanarbeit an und organisieren regelmäßig Projektunterricht im Klassenrahmen sowie jahrgangsübergreifend, um das Lernen an unserer Schule individueller und freudvoller zu gestalten. Insofern ist auch der Komplexunterricht (KU), den wir seit knapp zwei Jahren erfolgreich erproben, keine völlig neue Art des Unterrichtens für uns, sondern eine Fortführung dessen, was im Vorfachlichen Unterricht der Klassen 1-4 erarbeitet wurde. Schüler und Lehrer, die bereits Erfahrungen mit Gruppen- und Partnerarbeit, Gesprächskreisen und Projektuntericht haben, empfinden ein fächerübergreifendes Arbeiten in Klasse 5/6 nicht als etwas grundsätzlich Neues.

Planung und Gestaltung des Komplexunterrichtes
Unser Interesse am Ausprobieren einer fächerübergreifenden Arbeitsweise wurde durch eine Fortbildung mit Pädagogen von der 3.Grundschule Weißensee geweckt. Auch uns erschien der Versuch lohnenswert, komplexe Themen, wie z.B. die Entwicklung des Lebens auf der Erde, in ihrer Komplexität, also fächerübergreifend, aufzubereiten, anstatt sie „häppchenweise“ über den Einzel-Fachunterricht (mit ein bzw. zwei Stunden/Woche/Fach)zu vermitteln. Allerdings mussten wir schnell feststellen, dass fächerübergreifender Unterricht in der aktuellen Fachliteratur zwar hoch gelobt und propagiert wird, jedoch bisher kaum erprobt wurde.

Da wir Lehrer an der Grundschule bekanntermaßen Allroundkräfte sind, setzten sich die zukünftigen Lehrer für Biologie, Geschichte und Erdkunde zusammen, um einen zeitgemäßen Unterricht zu planen, der ein grundlegendes Verständnis für Zusammenhänge vermittelt, in dem er die einzelnen Fachinhalte (Rahmenpläne) zusammenführt. Für den Komplexunterricht an der Grundschule erschien es uns am sinnvollsten, die Zeitleiste (d.h., im Wesentlichen die Rahmenplanvorgaben zum Fach Geschichte) als übergeordnete thematische Perspektive („roten Faden“) zu Grunde zu legen und die Rahmenpläne für Erdkunde und Biologie auf inhaltliche und thematische Überschneidungen hin zu untersuchen. Mit dieser „Patchwork-Methode“ erstellten wir zunächst einen gemeinsamen (komplexen) Rahmenplan für Klasse 5, unter Berücksichtigung von Inhalten aus dem Fach Bildende Kunst und dem Umweltlehre-Unterricht. (Darüber hinaus können bei bestimmten Themen auch Verknüpfungen mit dem Deutsch- oder Mathematikunterricht sinnvoll sein.)

Themenkomplexe für Klasse 5
1. Die Erde - Entstehung und Form
2. Entstehung und Entwicklung des Lebens 
3. Ur- und Frühgeschichte des Menschen
4. Frühe Hochkulturen

Der einführende Komplex in Klasse 5 soll den Schülern u.a. Kenntnisse über den Urknall, unser Planetensystem und den Heimatplaneten Erde vermitteln. Auch trainieren sie den selbstständigen Umgang mit verschiedenen Karten und lernen topographische Arbeitstechniken kennen. Bei der inhaltlichen Gestaltung dieses Komplexes gehen wir bewusst über das im Rahmenplan Erdkunde vorgegebene "Bild der Erde" hinaus; zum einen aus Gründen der Logik (Der Anfang der Zeit und jeglicher Entwicklung sollte auch am Anfang eines komplexen Fachunterrichtes stehen!), zum anderen, um das große Interesse der Kinder und ihre Fragestellungen zum Thema Weltall berücksichtigen zu können.

Ist die Neugier der Kinder erstmal geweckt, ergeben sich die nächsten (komplexen) Fragen wie von selbst: Wann und wie ist das Leben entstanden?, Warum sind die Saurier ausgestorben?, Woher kam der Mensch? ... Der zweite Komplex in Klasse 5 beleuchtet folgerichtig biologische Themen und ermöglicht es, die stammesgeschichtliche Entwicklung der Organismen unter verschiedenen fachlichen Gesichtspunkten und auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen zu bearbeiten. So verbrachten wir einen Vormittag im Naturkundemuseum Berlin, wo die Schüler anhand eines gemeinsam erarbeiteten Fragebogens gezielt Informationen zu den Fossilien, Sauriern und den Merkmalen der Wirbeltierklassen sammelten. Zusätzlich wurden differenzierte Aufgabenstellungen (z.B. zu Charles Darwin und seiner Evolutionstheorie) in Gruppenarbeit ausgewertet und die Ergebnisse in der Klasse öffentlich gemacht.

Mit dem dritten Komplex in Klasse 5 fügen sich die eigentlichen Themen und Inhalte des Rahmenplanes Geschichte in die übergeordnete thematische Perspektive ein: Auf den Spuren der Menschwerdung erweisen sich bereits erworbene Vorkenntnisse der Schüler über die Erdgeschichte sowie die Evolutions-theorie als sehr nützlich. Da der Wechsel von Kalt- und Warmzeiten nicht nur Auswirkungen auf das Leben in der Altsteinzeit hatte, sondern unsere heutigen Landschaften formte, bietet sich eine fächerübergreifende Erarbeitung an. Ein abschließender Projekttag zum Leben in der Steinzeit ermöglichte den Schülern ein tieferes Verständnis für die Anfänge der menschlichen Kultur: Mit großem Eifer und Spaß bauten sie Modelle von Neandertaler-Zelten, steinzeitlichen Werkzeugen und Waffen, schufen erstaunliche 'Höhlenmalereien' und kochten ein eiszeitliches Menü. Eine anschließende Ausstellung unserer Arbeitsergebnisse in der Schule und die durchweg positiven Reaktionen darauf stärkten das Selbstvertrauen der Schüler und waren sehr motivierend für alle Beteiligten.

Die beschriebenen Inhalte des Komplexunterrichtes für Klasse 5 wurden in einem Zeitraum von vier Monaten bearbeitet. Sie zeigen deutlich die Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Arbeitens, aber auch die Grenzen: Nicht alle Themen der Rahmenpläne sind der übergeordneten thematischen Perspektive, dem Zeitstrahl, zuzuordnen. Das Ziel, einen Unterricht zu gestalten, der die verschiedenen Teil-aspekte eines Themas beleuchtet, um aus Teilen ein Gesamtbild entstehen zu lassen, ist nicht dadurch zu erreichen, alle Inhalte der einbezogenen Fächer zusammenzuführen. Das Ergebnis wäre ein 'Einheitsbrei', um den Preis fachlicher Qualitätsverluste. Meiner Meinung nach sollte man den Wunsch nach einer fächerübergreifenden Arbeitsweise nicht zum Dogma werden lassen, sondern inkompatible Inhalte (z.B. Teilbereiche aus dem Thema Deutschland) auch weiterhin separat erarbeiten.

Unterrichtsorganisation
Fächerübergreifendes Arbeiten in der Grundschule ist sowohl unter gesellschaftlich-pädagogischen Aspekten („Globales Denken“) als auch entwicklungs- und lernpsychologisch gesehen sinnvoll, stellt jedoch zusätzliche Anforderungen an Pädagogen, Schulleitungen und Bildungspolitiker. 
Diese Art des Unterrichtens ist ohne Teamarbeit, eine relativ exakte Planung und kontinuierliche Absprachen zwischen den Beteiligten nicht machbar. In der Anfangsphase müssen außer dem Kollegium der Schule auch die Eltern der Schüler für die Erprobung des fächerübergreifenden Unterrichts motiviert werden. Die Schulleitung muss sich bemühen, über Teilungsstunden, die Arbeit mit Lernbehinderten oder einen Schulversuch zusätzliche Stunden zu beschaffen, um zwei Lehrer gemeinsam im Komplexunterricht einsetzen zu können.

An unserer Schule haben wir zusätzlich zu den vier Stunden Fachunterricht für Erdkunde, Geschichte und Biologie in den Klassen 5 und 6 eine Stunde Bildende Kunst sowie die Umweltlehre-Stunde zu sechs KU-Stunden pro Woche Zusammengefasst, die jeweils in drei Doppelstunden geplant werden.

Vorteile des Komplexunterrichts
Diese Arbeit in Doppelstunden ermöglicht eine abwechslungsreichere, intensivere und umfassendere Behandlung der Themen. Wir Lehrer haben mehr Zeit und Raum, um die Interessen der Kinder und ihre Fragestellungen stärker zu berücksichtigen und sie entsprechend ihrer individuellen Möglichkeiten an der gemeinsamen Arbeit zu beteiligen. Auch ist es wesentlich einfacher, Gruppen- und Partnerarbeitsphasen, Projektarbeit und Exkursionen zu planen sowie anschauliche Zusatzmaterialien zu nutzen. 

Der scheinbare Mehraufwand für die gemeinsame wöchentliche Planung wurde durch unsere positiven Erfahrungen kompensiert: Für viele Schüler hat sich der Komplexunterricht aufgrund der erzielten Ergebnisse und der handlungsorientierten Gestaltung zum "Lieblingsfach" entwickelt. Eltern stellen mit Erstaunen fest, dass ihre Kinder die im Komplexunterricht erworbenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten selbstständig auf andere Fakten und Zusammenhänge übertragen und zu bemerkenswerten Schlussfolgerungen und Fragen gelangen. Und, last but not least, wir Lehrer gewinnen neue Impulse und Motivation für unsere tägliche Arbeit...
Unterrichtsplanung und -gestaltung im Team vermittelt Einblicke in die Arbeitsweise und Inhalte anderer Fächer, bereichert durch eine Vielfalt von Ideen, Sichtweisen, aber auch Materialien den eigenen Unterricht und ermöglicht auch mir als Lehrer neue Einsichten in die Komplexität der Beziehungen zwischen Mensch, Natur und Raum. Nach zwei Jahren erfolgreicher Teamarbeit im Komplex-unterricht sind die beteiligten Lehrer untereinander offener geworden; wir können die eigene Arbeit und die der Kollegen besser einschätzen und empfinden uns nicht länger als „Einzelkämpfer“.

Dieses Fazit sollte uns Mut machen, offen zu sein für neue Erfahrungen im fächerübergreifenden Arbeiten - und Bildungspolitiker motivieren, derartige Reformprojekte künftig finanziell und personell zu unterstützen.
 

Nachtrag

Meine ehemaligen Schüler berichten übereinstimmend, mit ihren im Komplexunterricht erworbenen Vorkenntnissen eine gute Grundlage für den Fachunterricht an den Oberschulen gewonnen zu haben, bedauern jedoch auch, dass an keiner der weiterführenden Schulen fächerübergreifend gelernt wird.
Iris Seifert, Grüner Campus Malchow - Schule im Grünen,